Italien in China: Die Westlichen Bauten im Alten Sommerpalast Yuanmingyuan in Beijing

Forschungsbericht (importiert) 2012 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte

Autoren
Schlimme, Hermann
Abteilungen
Bibliotheca Hertziana - Max Planck Institute for Art History, Rom
Zusammenfassung
In einem gemeinsamen Forschungsprojekt des Beijing Tsinghua Tongheng Urban Planning & Design Institute THUPDI (Tsinghua University Beijing) und der Bibliotheca Hertziana (MPI für Kunstgeschichte, Rom) werden die Westlichen Bauten im Alten Sommerpalast Yuanmingyuan in Beijing untersucht. Die zentrale Frage ist, wie westliche Bauformen mit chinesischen Architekturauffassungen interagierten, wie die Paläste von den chinesischen Bauleuten unter Adaption vorhandener und importierter Konstruktionsweisen realisiert wurden und wie dieser interkulturelle Aspekt rezipiert wurde.

Die Westlichen Bauten

Die sogenannten Westlichen oder Europäischen Bauten (Xiyanglou) wurden zwischen 1747 und 1768 auf Wunsch des Kaisers Qianlong errichtet. Sie machen einen kleinen Teil des weitläufigen Alten Sommerpalastes Yuanmingyuan in Beijing aus. Der italienische Jesuit Giuseppe Castiglione, der 1714 nach China gekommen war und zunächst als Maler am Kaiserhof Karriere gemacht hatte, entwarf die Bauten. Weitere in China ansässige Ordensbrüder waren in das Unternehmen eingebunden. Chinesische Bauleute haben die Westlichen Bauten ins Werk gesetzt, wobei der bereits seit langer Zeit für den Kaiser tätigen Architektenfamilie Lei eine Schlüsselrolle zukam. Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit der geschwächten Qing-Dynastie haben britische und französische Truppen den Sommerpalast im Jahre 1860 zerstört. Seit einiger Zeit erforschen Wissenschaftler an dem von Dai Heng Guo geleiteten Department of Architecture and Urban Heritage am THUPDI in Beijing den Alten Sommerpalast [1, 2].

In dem jetzt angelaufenen Projekt kooperieren das genannte Beijinger Department of Architecture and Urban Heritage (Dai Heng Guo, Yin Lina, Alexandra Harrer u.a.) und die Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom (Hermann Schlimme). Ziel ist, die Westlichen Bauten umfassend architekturhistorisch zu erforschen und in virtuellen 3D-Modellen kritisch zu rekonstruieren. Die virtuellen Modelle folgen den in der Londoner Charta formulierten wissenschaftlichen Leitsätzen für die computergestützte Visualisierung von kulturellem Erbe.

Die Westlichen Bauten sind das Ergebnis einer vielschichtigen Interaktion zwischen chinesischer und europäischer Baukultur. Weder hat Europa hier lediglich einen Einfluss auf die chinesische Architektur, noch kann man die Westlichen Bauten als zwar in Difformität errichtete, aber im Grunde doch europäische Architektur betrachten. Vielmehr sind sie das Ergebnis einer Kooperation zahlreicher Personen mit ganz unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und unterschiedlichen Kenntnissen, die gemeinsam auf ein konkretes, arbeitsteilig zu erreichendes Ziel hingewirkt haben. Das lässt die Tiefe der intellektuellen wie praktisch-handwerklichen Auseinandersetzung erahnen, die es zu erforschen gilt, um die Bauten zu verstehen. Daher kooperieren in dem Projekt Fachleute für das historische Bauwesen aus beiden Kulturen.

Schriftliche, bildliche und bauliche Quellen

Quellen für die Erforschung des Alten Sommerpalastes sind die Fotos der zerstörten Bauten, die um 1873 vom deutschen Photografen Ernst Ohlmer gemacht wurden (Abb. 1, Abb. 2) [3], sowie die kurze Zeit später entstandenen Fotos von Thomas Child und Théophile Piry und nicht zuletzt eine Stichserie zu den Westlichen Bauten aus dem Jahr 1783, die aber in Details, Proportionen und Gesamteindruck unzuverlässig ist. Wichtigste Quelle sind die Ruinen der Bauten selbst, die mittlerweile weiter verfallen sind. Über die Westlichen Bauten ist bereits ausgiebig geforscht worden. Bauforschung wurde hingegen bislang praktisch nicht betrieben. In diese Lücke stößt das Projekt. Zunächst geht es darum, die Ruinen genau zu vermessen und zu dokumentieren. Dadurch geraten die Bauweisen und die Entstehungsprozesse der Bauten in den Mittelpunkt. Das ist hier besonders aufschlussreich, denn die fremde Formensprache musste unter Adaption vorhandener beziehungsweise ebenfalls aus Europa importierter Konstruktionsweisen realisiert werden. Die in China auch für die prominentesten Repräsentationsbauten übliche Holzkonstruktion wurde durch Steinbau ersetzt. Inwieweit klassisch chinesische Holzbauweisen, bei denen sich die Elemente in komplexer Weise gegenseitig in ihrer Lage sichern, hier in Stein „übersetzt“ wurden, wäre zu klären.

Die Bauten sind, verglichen mit europäischen Architekturen, in ihren Proportionen sehr gedrungen und weisen für den europäischen Betrachter gänzlich übertriebene Wanddicken auf (Abb. 3). Die chinesischen Bauleute hatten mit der zweischaligen Wandbauweise aus tragendem Mauerwerk und Marmorverkleidung wenig Erfahrung und dimensionierten die Mauern möglicherweise deshalb zur Sicherheit sehr dick. Inwiefern hier Konstruktionsentscheidungen die Proportionen der Architektur insgesamt beeinflusst haben, wäre zu ermitteln. Es steht außer Frage, dass das Ins-Werk-Setzen eines Entwurfs eine konzeptionelle Leistung ist, die als Teil der Baukultur einer Epoche verstanden werden muss. Die Erforschung dieses Aspekts lässt gerade bei den Westlichen Bauten interessante Ergebnisse erwarten, da sich in der Nationalbibliothek in Beijing das Archiv der Architektenfamilie Lei erhalten hat. Mithilfe historischer Zeichnungen und Schriftdokumente lässt sich nachvollziehen, wie man sich mit der ungewohnten Architektursprache und Bauweise aktiv und kreativ auseinandergesetzt hat.

Bauliche Anlage und Formensprache

Die einzelnen „Western Palaces“ zeugen von der Interaktion westlicher Formensprachen und Bautypologien – etwa bossierte Sockel und Piano Nobile, Pavillons, Treppenanlagen etc. – mit chinesischen Architekturauffassungen: So ergeben die Westlichen Bauten insgesamt keine Schlossanlage im Sinne der europäischen Architektur, die mit Garten, Park und Nebengebäuden auf das Hauptgebäude ausgerichtet ist, sondern bilden einen für chinesische Gartenanlagen typischen Parcours, der mit Architekturen, Fontänen und Gärten besetzt ist [4]. Für den Brunnenprospekt (Dashuifa, Große Wasserspiele, Abb. 4) sind offenbar Francesco Borrominis Fenster-Architekturen monumentalisiert, aus dem Wandzusammenhang gelöst und mit anderen Elementen kombiniert worden. Castiglione, der Europa im Jahre 1714 für immer verlassen hatte, konnte die europäische Architektur über Traktate und Stichwerke kennen, so etwa aus Domenico de Rossis dreibändigem Studio di Architettura Civile, deren erster, 1702 erschienener Band zahllose Fensterdetails aus Borromini-Architekturen enthielt [5]. Die Bibliotheken der Jesuiten-Mission in Beijing, die ihm zur Verfügung standen, waren sehr gut ausgestattet. Es gilt, die heute zerstreuten Buchbestände der Jesuiten über die in der Forschung bereits erfolgten Ansätze [6] hinaus zu rekonstruieren und die dort verfügbaren italienischen und europäischen Architekturtraktate und Stichvorlagenwerke zu ermitteln, die Grundlage der Entwürfe Castigliones und der baukulturellen Auseinandersetzung gewesen sein können.

In der Detailbehandlung der Bauten fällt ein manchmal grafischer Umgang mit den Details der Säulenordnungen ins Auge. Dieser Umstand mag darauf hinweisen, dass Stichvorlagen verwendet wurden, er kann aber auch in der chinesischen Dekorationstradition begründet sein. In dem Zusammenhang wäre es auch interessant zu erforschen, wie der Maler Castiglione mit dem Architekten Castiglione „interagiert“ hat.

Die Architektur, die den Thron hinterfängt, von dem aus der Kaiser die Großen Wasserspiele beobachten konnte (Guanshuifa, Abb. 2), wirkt in vieler Hinsicht wie eine kleine Brunnen- oder Gartenarchitektur aus Italien aus der Zeit um 1700. Obelisken und Vasen vervollständigen diesen Eindruck. Die Exedra in den giardini segreti der Villa Borghese in Rom kann hier beispielhaft genannt werden oder die Gartenarchitekturen aus Filippo Juvarras Projekt für einen Palast für drei Personen gleichen königlichen Ranges aus dem Jahre 1705 für die römische Accademia di San Luca. Castiglione könnte tatsächlich, wie Cécile und Michel Beurdeley [7] vermuten, wohl um 1707/1710 einmal in Rom gewesen sein. Das wird im Verlauf des Projekts genau zu prüfen sein. Wäre Castiglione in Rom gewesen, hätte er zahlreiche Bauten und Entwürfe sehen können, die für seine Architektur in Beijing eine Rolle spielen, darunter auch Juvarras Projekt von 1705, das bekanntlich in der römischen Akademie ausgestellt war.

Literaturhinweise

1.
Guo Daiheng 郭黛姮
Qianlong yupin Yuanmingyuan 乾隆御品圆明园 [Qianlongs kaiserliche Anlage Yuanmingyuan]
Zhejiang guji chubanshe 浙江古籍出版社, Hangzhou 杭州 (2007)
2.
Guo Daiheng 郭黛姮, He Yan 贺艳
Yuanmingyuan de “jiyi yichan” Yanghsifang tudang 圆明园的“记忆遗产“样式房图档 ["Erbe zur Erinnerung" an den Yuanmingyuan: Plandokumente des Yangshifang]
Zhejiang guji chubanshe 浙江古籍出版社, Hangzhou 杭州 (2010)
3.
Beijing World Art Museum, Qin Feng Studio (Eds.)
残園驚夢  奥尔末与圆明园历史影像 = Disturbed dreams in the ruins of the Garden. Ernst Ohlmer and Historical Images of the Yuanmingyuan
Guangxi Normal University Press, Guangxi (2010)
4.
Droguet, V.
Les Palais Européens de l’Empereur Qianlong et leurs Sources Italiennes
Histoire de l’art 25/26, 15-28 (1994)
5.
De Rossi, D.
Studio di Architettura Civile, Bd. I
De Rossi, Rom (1702)
6.
Hui Zou
The jing of a perspective garden
Studies in the History of Gardens and Designed Landscapes 22(4), 293–326 (2002). Siehe insbesondere den Anhang: Books on Architecture and Gardens in the Jesuit Libraries in Beijing, 317–320
7.
Beurdeley, C.; Beurdeley, M.
Castiglione, peintre jésuite a la cour de Chine
Bibliothèque des Arts, Paris (1971)
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