Spazio figurato und die mittelalterliche Wahrnehmung von Raum

Forschungsbericht (importiert) 2011 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte

Autoren
Geymonat, Ludovico Vittorio
Abteilungen
Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom
Zusammenfassung
Ein Forschungsprojekt an der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom) untersucht das Zusammenspiel von Kunstobjekten, Raum und Betrachtern. Mit dem Begriff des spazio figurato werden Räume bezeichnet, die konzipiert wurden, um speziell für diese Orte geschaffene Figuren erlebbar zu machen. Am Beispiel der mittelalterlichen spazi figurati geht das Projekt der Frage nach, wie sich dieses Zusammenspiel im Lauf der Zeit verändert hat und wie diese Orte rezipiert wurden.

Spazio figurato

In den bildenden Künsten kommt der Beziehung zwischen Raum und Figuren wesentliche Bedeutung zu. Diese Beziehung berührt zentrale Aspekte der Architektur, Malerei und Skulptur sowie wesentliche Gestaltungselemente wie Licht, Entfernung und Sichtbarkeit. Sie verdankt sich aber ebenso grundlegend der Rolle des Auftraggebers, des Künstlers und des Betrachters. Wenngleich die Bedeutung des Verhältnisses von Figuren zu dem Raum, in dem sie sich befinden, prinzipiell außer Zweifel steht, ist die genaue Analyse der verschiedenen Elemente dieses Zusammenspiels komplex und aufwendig.

Mit dem Ausdruck des spazio figurato hat eine Forschergruppe an der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom) einen Arbeitsbegriff geschaffen, der nicht nur eine bestimmte Werkkategorie benennt, die wesentlich von der Beziehung von Raum und dargestellten Figuren bestimmt wird. Darüber hinaus erlaubt dieser Begriff, die Methoden zu bestimmen, die für die Analyse dieses Zusammenspiels, seiner konstituierenden Elemente und deren Veränderung im historischen Verlauf geeignet sind.

Die Vielschichtigkeit des Themas erforderte es, sich bei der Analyse auf einen begrenzten Zeitraum zu beschränken. Zugleich musste für diesen Zeitraum eine ausreichende Bandbreite an Werken vorliegen, die als spazi figurati gelten können. Die Wahl fiel auf Italien in der Zeit von 1100 bis 1450: Die Vielfalt der in dieser Zeit entstandenen spazi figurati und die Veränderungen, die in ihrer Konzeption und Umsetzung festzustellen sind, ergeben eine repräsentative Basis für eine sowohl in die Tiefe gehende als auch verschiedene Zugänge suchende Analyse des Themas. Im Dezember 2011 fand an der Bibliotheca Hertziana daher ein Studientag zum Thema SPAZIO FIGURATO: Architettura e programmi iconografici in Italia, 1100–1450 (SPAZIO FIGURATO. Architektur und ikonografische Programme in Italien, 1100–1450) statt, an dem deutsche, englische, nordamerikanische und italienische Wissenschaftler teilnahmen.

Ausgangspunkt der Untersuchung waren einige spezifische spazi figurati, also Räume, die gebaut oder umgebaut wurden, um das Zusammentreffen mit zwei- oder dreidimensionalen Figuren zu inszenieren, die eigens für diese Orte geschaffen wurden. Grundlage der Überlegungen war, dass die Interaktion zwischen Raum und Figuren die Wahrnehmung des Betrachters beeinflusst. Eine weitere Annahme war, dass historisch bedingte Veränderungen der Beziehung zwischen Raum, Figur und Betrachter auch einen Wandel in der Wahrnehmung, der Nutzung und der Raumerfahrung widerspiegeln.

Grundzüge und Leitlinien des Forschungsvorhabens

Wenn man den spazio figurato als einen eigenen Bereich der Forschung ansieht und geeignete Beispiele untersucht, gelangt man zu folgender Erkenntnis: Es geht nicht allein um den jeweiligen Raum und die darin enthaltenen Figuren, sondern auch um den Betrachter und die Beziehung, die zwischen diesem, dem Raum und den Figuren entsteht. Diese Dreiecksbeziehung scheint der Ausgangspunkt für die Entstehung, Funktion und künstlerische Gestaltung der spazi figurati zu sein und deren Gestaltungsprinzipien und Nutzung zu beeinflussen, je nachdem, wie sich im Lauf der Zeit das Raum-Figur-Verhältnis verändert.

Die visuelle Wahrnehmbarkeit und die Möglichkeiten der eigenen Positionsveränderung spielen eine entscheidende Rolle für die Erfahrung eines spazio figurato durch den Betrachter. Daher befasst sich ein Teil der Forschungen schwerpunktmäßig mit Fragen der Sichtbarkeit, die wesentlich durch die Lichtsituation und die Distanz der Figuren zum Betrachter bestimmt wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Beschreitbarkeit des Raumes: Sie ist durch die Eingangssituation und die möglichen Standortveränderungen, zu denen der Betrachter auch durch die bildliche Darstellung angeregt werden kann, bedingt. Einige der untersuchten spazi figurati – wie zum Beispiel die Baptisterien in Parma und Padua (Abb. 1, 2) – lassen vermuten, dass die räumliche Disposition der Figuren einerseits natürlich durch Lichteinfall und Lage der Fenster bestimmt wurde, andererseits aber auch durch den Bewegungsfreiraum, den diese Baptisterien bieten. Gerade diese wechselseitige Beeinflussung zwischen Raum, Figuren und Betrachter ist der Schlüssel für das Verständnis dafür, wie spazi figurati konzipiert und umgesetzt wurden.

Terminologie und methodische Vorgehensweise

Der Ausdruck spazio figurato („spazio“ = „Raum“, „figura“ = „Figur“) unterstreicht, dass die Figuren von ihrem architektonischen Kontext untrennbar sind: Diese beiden Elemente bilden eine an den jeweiligen Ort gebundene und nur dort bedeutsame Einheit. Ziel des Projekts ist es aber nicht, jedes einzelne Kunstwerk auf eine mögliche Zugehörigkeit zu dieser Kategorie zu überprüfen. Vielmehr geht es um die Frage, bis zu welchem Grad ein bestimmtes Werk Aspekte aufweist, die einem spazio figurato grundsätzlich zu eigen sind.

Die eindeutigsten Beispiele von spazi figurati ließen sich bislang in begrenzten Räumen finden: frei stehende Baptisterien, Krypten oder Privatkapellen in einer Kirche. Wer in solche Räume eintritt, befindet sich, genau wie die dargestellten Figuren, innerhalb eines Bereiches, der Distanzen und Wechselbeziehungen definiert. Das heißt jedoch nicht, dass nur Innenräume spazi figurati sein können. Auch die Fassade eines Bauwerks und sogar ein Platz oder eine Straße können Charakteristika der spazi figurati aufweisen. Denn wenn Sichtbarkeit und Bewegung konstituierende Elemente eines spazio figurato sind, liegt es auf der Hand, dass Zugänglichkeit und Bewegungsfreiheit, wie sie offene Räume bieten, auch diese zu einem vielversprechenden Forschungsgegenstand machen.

So ist es kein Zufall, dass sich auf dem Forschungsgebiet der spazi figurati einige Wissenschaftler auf die Zwischen- und Übergangsbereiche konzentriert haben – beispielsweise auf Eingangswände von Kapellen, die als Scharnier zwischen Innen und Außen fungieren, wie im Fall der Cappella di Santa Caterina in San Clemente in Rom (Abb. 3). Andere Studien widmen sich der Beziehung zwischen Innen- und Außenraum im Hinblick auf die Wechselwirkung von Raum und Figur; hierfür ist beispielsweise das Baptisterium von Castiglione Olona ein geeigneter Untersuchungsgegenstand (Abb. 4).

Die leitenden Fragen lauten: Wie werden spazi figurati im Einzelnen realisiert? Welche Rolle spielen Entwurfszeichnungen und Pläne bei der Konzeption? Wer trifft dabei welche Entscheidungen? Zu welchem Zeitpunkt wird über die Verwirklichung einer Interaktion von Raum und Figur nachgedacht? Was sagen die historisch bedingten Veränderungen, die sich in der Beziehung von Raum und Figur ausmachen lassen, über die Raumwahrnehmung einer bestimmten Epoche aus?

Die Themen, die sich aus der Erforschung des spazio figurato ergeben, sind für zahlreiche Bereiche der Kunstgeschichte von Bedeutung. Die Ikonografie erforscht nicht nur den Zusammenhang zwischen Bildern und Texten, sondern auch die Rolle des Raumes für die Bedeutung der Bilder. Dazu bieten sich die spazi figurati als ein weites Forschungsfeld an.

Auch Fragen der Beziehung zwischen Künstler und Auftraggeber, etwa die Aufgabenverteilung bei der Umsetzung von spazi figurati, können differenzierter beantwortet werden. Erste Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Hauptaufgabe des bildenden Künstlers darin bestand, den ihm zur Verfügung stehenden Raum auf der Grundlage eines Bildprogramms zu strukturieren, das er in den meisten Fällen nicht selbst entworfen hatte. Mit anderen Worten: Die Wahl von Raum und Bildprogramm oblag dem Auftraggeber, der dabei auch den möglichen Betrachter in den Blick nahm. Der Künstler hatte die Aufgabe, die Kommunikation zwischen beiden visuell zu organisieren. Insofern ermöglicht der Begriff spazio figurato auch, neu über die Kreativität der bildenden Künstler nachzudenken.

Ein neues Modell für die Untersuchung der Beziehung von Raum und Bild?

Unsere Wahrnehmung und unser Erleben eines Raumes werden durch das Zusammentreffen mit den darin befindlichen Figuren bestimmt und durch die Art und Weise, wie wir mit ihnen denselben Raum teilen. Diese Tatsache machen sich viele zeitgenössische Künstler zunutze, die in ihren Arbeiten auf die subjektive Wahrnehmung und die persönliche Erfahrung des Werkes seitens des Betrachters abzielen, indem sie sie veranlassen, in ihre Installationen „einzutauchen“.

Eines der Ziele des Forschungsprojekts ist, eine historisch-empirische Grundlage für eine kritische Betrachtung der Wechselbeziehung von Raum und Figur zu schaffen sowie darüber hinaus der Veränderungen von Raumerfahrung und Raumerlebnis anhand von historisch mehr oder weniger weit zurückliegenden spazi figurati.

Die Untersuchung der spazi figurati verdeutlicht, wie wichtig es ist, den baulichen Kontext der Werke sowie alle materiellen Spuren ihrer Veränderungen im Laufe der Zeit genau zu konservieren und zu dokumentieren. Daher stellt sich die Aufgabe, eine visuelle Dokumentationsform für die räumliche Dimension von Bildprogrammen zu entwickeln – in fotografischer, filmischer und/oder digitaler Form – das heißt für die spezifische Eigenart eines gebauten, mit Figuren ausgestatteten spazio figurato der Vergangenheit.

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2.
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Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart: Visuelle Strategien.
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4.
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Ausmessen – Darstellen – Inszenieren: Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit.
Zürich: Chronos, 2007.
5.
Baschet, J.
L’iconographie médiévale.
Paris: Gallimard, 2008.
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