Amor an der Quelle von Cecco del Caravaggio oder die Grenzen der Malerei
Forschungsbericht (importiert) 2005 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Das schamloseste Bild des 17. Jahrhunderts?
Unter den Bildern, die im Umkreis und in der Nachfolge des revolutionären Malers Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610) entstanden, verdient ein Werk besondere Aufmerksamkeit (Abb. 1). Es formuliert mit bildlichen Mitteln eine Reihe von ästhetischen Überzeugungen und künstlerischen Zielen, die zweifellos auf Caravaggio selbst zurückgehen. Der Autor des Bildes war einer der engsten Mitarbeiter und Freunde von Caravaggio, trug daher auch den Spitznamen Cecco (= Francesco) del Caravaggio. Wie erst seit einigen Jahren bekannt ist, lautete sein richtiger Name Francesco Boneri.
Das Bild, das stilistisch in das dritte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts zu datieren ist, misst 119 x 170 cm. Vermutlich war es für einen Sammler bestimmt. Heute befindet sich das Bild in Privatbesitz. Dies mag erklären, warum es bislang nur wenig Beachtung fand.
Was zeigt dieses Bild? Zunächst nichts weiter als ein Bild, das heißt eine große, noch ungerahmte Leinwand, die anscheinend auf dem Boden steht und über deren rechte obere Ecke ein kostbarer roter Brokatstoff drapiert ist. Selten zuvor hatte man ein Bild im Bild derart raumfüllend dargestellt. Mit anderen Worten: Das primäre Thema des Bildes ist eine Malerei.
Erst in dem inneren Bild ist Amor zu erkennen, eine nackte männliche Figur mit zwei Flügeln, die ihren Mund einem hell beleuchteten Brunnenrohr nähert. Diese schwer zu benennende Darstellung hat die Forschung schon immer irritiert. In den 1980er Jahren wurde es als das „schamloseste Werk seiner Zeit“ bezeichnet, und zwölf Jahre später sah es ein anderer Interpret als das einzige homoerotische Werk der Epoche mit „reference to oral sex“ an. Derartige Einschätzungen werfen jedoch eher Licht auf Tendenzen der Kunstgeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts als auf das Werk selbst.
Die Inszenierung
Eine methodisch überzeugende Deutung des Bildes muss nicht nur die Figur Amors, sondern auch alle weiteren Details der Darstellung in plausibler Weise erklären können. Dies betrifft nicht zuletzt die besondere Art der Inszenierung, denn diese ist in der Tat verblüffend. Von der Umgebung, von der „Welt“, in der sich die bemalte Leinwand befindet, sieht man so gut wie nichts. Lediglich die bereits genannte Drapierung sowie ein Pfeil in der rechten unteren Bildecke gehören ihr an – und letzterer nur mit seinem gefiederten Ende. Seine Spitze hingegen ist bereits ein Teil des gemalten Bildes, das hier einen Köcher mit weiteren Pfeilen zeigt (Abb. 1, Abb. 7a). Dieses illusionistische Bravourstück ist jedoch keine neue Erfindung. Vergleichbares malte bereits Francesco Salviati in einem um 1558 entstandenen Fresko im Palazzo Farnese (Abb. 2). Dort erhält ein gewappneter Krieger eine Lanze, die ihm von einem Putto aus einer anderen Welt, aus einem fingierten Bildteppich, hinuntergereicht wird. Es handelt sich also ebenfalls um ein Bild im Bild.
Zu dem Bereich solcher „unrealistischer“ Verbindungen zweier Realitätsebenen im Bild zählt auch ein anderes, in der Malerei regelmäßig wiederkehrendes Element: die Signatur des Künstlers. Sie gehört sowohl der Welt des Bildes wie derjenigen des Betrachters an. Die Künstler waren sich sehr bewusst darüber, dass sie mit der Signatur einen „Fremdkörper“ in das Bild hineinbringen. Das belegen jene Werke, in denen sie zusammen mit ihrem Namen noch weitere Dinge aus ihrer Welt, ihrer Werkstatt, in die innerbildliche Welt „hineintrugen“. Dabei handelte es sich um Gegenstände, die dort eigentlich nicht hingehörten, wie etwa Pinsel, Farbtopf, Palette oder Malstock.
Diesem Gedanken hatte Caravaggio eine völlig neue Dimension gegeben, als er seine „Enthauptung Johannes des Täufers“ in Malta signierte (Abb. 3). Denn hier gibt sich die Signatur erstmals eindeutig als das zu erkennen, was sie ist, nämlich die Pinselschrift Caravaggios, die Spur des Hinüberlangens des Malers aus seiner Welt in die des Bildes, in die Blutlache des Täufers.
Entsprechend kann auch Ceccos Pfeil, der aus der Umwelt des Bildes in dieses selbst hineinreicht, als Signatur des Künstlers – oder besser: als Werkzeug der Signatur – betrachtet werden. Amor selbst ist also der Maler der Leinwand im Bilde. Doch welcher Amor, welche Art der Liebe ist hier gemeint? Die gesamte klassische Literatur weiß nichts von einem Amor, der, fast verschmachtend, versucht, seinen Durst aus einer Felsenquelle zu stillen. Sollte der Maler hier eine vorbildlose ikonographische Erfindung gemacht haben?
Das Vorbild: Johannes an der Quelle
Die Gestalt des nackten Jünglings, der seinen Mund hoffnungsvoll dem Brunnenrohr nähert, ist keineswegs eine Erfindung Ceccos, sondern geht auf eine Komposition Caravaggios zurück (Abb. 4).
Diese Bildidee war insbesondere in Süditalien und in Spanien im zweiten und dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts sehr verbreitet. So sehr, dass sich der spanische Kunsttheoretiker Pacheco um die Mitte des Jahrhunderts zu der Ermahnung genötigt sah, es sei ungehörig, Johannes darzustellen, wie er bäuchlings auf dem Boden liege und aus einem Felsen trinke.
Dass Cecco dieses Vorbild kannte, belegt sein Bild eines schockierend nackten Johannes (Abb. 5). Der Heilige, ohne jegliches konventionelle Attribut, ist nur durch seinen Nimbus identifizierbar. Wenn der Maler die gleiche Figur für seinen Amor verwendet, war dies nicht lediglich eine formale Übernahme, sondern durchaus inhaltlich motiviert.
Sehnsucht nach Gott
Die soeben vorgestellte Variante der Johannes-Ikonographie ist als Ausdruck des Verlangens der entblößten Seele nach der Wahrheit, deren Quelle Christus ist, gedeutet worden. Diese Interpretation stützt sich auf die bekannten biblischen Verse vom Beginn des 42. Psalms: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ Auf diese Verse verweist der trinkende Hirsch, der sich nicht nur auf vielen Darstellungen des Johannes in der Wüste findet, sondern auch im Hintergrund der Allegorie des „Desiderio di Dio“, des Verlangens nach Gott, in Cesare Ripas viel gelesener „Iconologia“ (1603) zu sehen ist (Abb. 6).
Barocke Metaphorik
Ist Amor also vielleicht gar kein irdischer Amor, sondern ein „Amor Dei“ oder „Desiderio verso Dio“, eine Gestalt, die das Verlangen nach Gott verkörpert? Akzeptiert man eine solche Lesung, werden plötzlich die bislang ungeklärten Details des Bildes verständlich.
Denn Amor selbst ist Maler und, mehr noch, Erfinder der Malerei gewesen. Dies beschreibt ein Text des barocken Dichters Giovanni Battista Marino mit dem Titel „La pittura“ („Die Malerei“). Der Text handelt von der Santa Sindone, dem Turiner Leichentuch, das als vollendete Malerei eingestuft wird, weil es Jesus Christus selbst, der höchste aller Maler, geschaffen hat. Marino nennt Amor den Erfinder der Malerei, da, nach einer bekannten antiken Legende, der Wunsch, ein Andenken an den abwesenden Geliebten zu haben, zur Erfindung der Malerei geführt hatte. Ebenso habe Christus, bevor er die Menschen verließ, ein Bild von sich zurücklassen wollen. Nach Marinos Überzeugung war das eine perfekte Malerei. In ihr übernahmen die Liebespfeile die Aufgabe der Pinsel. Denn die allerheiligsten Nägel, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde, seien nichts anderes als Liebespfeile.
Diese fortgesetzte Metapher Nägel-Pfeile-Pinsel bestätigt nicht nur, dass der aus dem Bild ragende Pfeil als Amors „Pinsel“ anzusehen ist. Sie erklärt auch die zwei einzelnen Pfeilspitzen, die in ihrer Form zweifellos an die Kreuzesnägel erinnern sollen und die bereits andere Maler pfeilspitzenartig dargestellt hatten (Abb. 7a und Abb. 7b).
Doch es bleiben noch weitere Details des Bildes zu deuten. Insbesondere die Holztafel, die oberhalb der Quelle an einen Nagel gehängt ist, wo sie das volle Licht empfängt, verlangt nach einer Erklärung. Auf ihr ist ein Blatt unbeschriebenen, weißen Papiers angebracht. An dieser Stelle erwartet der Betrachter eine Inschrift, also einen erklärenden Titulus. Tatsächlich zitiert das Papier in Form und Anbringung fraglos den Bildträger jenes Titulus, den jeder kannte, den Titulus Crucis. Dieser findet sich regelmäßig auf einem Blatt Papier, das auf eine Holztafel geklebt ist, die ihrerseits mit einer kurzen Schnur an einem Nagel hängt (Abb. 8a und Abb. 8b) – genau, wie dies auch auf Ceccos Bild gezeigt wird.
Dass dieser erneute Verweis auf die Passion Christi direkt über der Quelle hängt, ist kein Zufall. Denn bekanntlich gehört zu den letzten Worten, die Christus am Kreuz sprach: „sitio“– mich dürstet.
Reflexionen über die Grenzen des Darstellbaren
Die leere weiße Fläche, der abwesende Titulus, verweigert aber nicht nur eine eindeutige Erklärung, sondern führt – so paradox dies klingen mag – unmissverständlich vor Augen, dass es etwas gibt, was wir nicht sehen können. Und genau auf dieses Unsichtbare richtet sich das Verlangen unseres Cupido oder Amor divino.
Ceccos Bild fordert den Betrachter zur Reflexion über den Amor divino und – mit dem unsichtbaren Titulus – über das Sehen und Nicht-Sehen auf. Damit ist untrennbar die Überlegung über das Darstellbare verknüpft, denn die Holztafel mit dem weißen Papier muss, als „mise en abyme“, mit dem Bild als Ganzem in Verbindung gebracht werden. Mit einem kleinen Detail verdeutlicht der Maler diese Beziehung: Die bemalte Leinwand hat, obwohl noch ungerahmt, in der Mitte bereits eine Kordel zum Aufhängen, ähnlich jener Kordel, mit der die Holztafel an dem eigens für sie ausgearbeiteten Felsen aufgehängt ist.
Mit dem Bild artikuliert Cecco die auf Caravaggio selbst zurückgehende Überzeugung, dass nur das dem Auge Sichtbare Gegenstand der Malerei ist. Das Transzendentale hingegen kann auch bei größtem Verlangen danach nicht dargestellt werden. Es kann allenfalls mittels realistisch wiedergegebener, gegenwärtiger Objekte und Figuren metaphorisch angedeutet werden.