Roma communis patria. Die Nationalkirchen in Rom zwischen Mittelalter und Neuzeit
Forschungsbericht (importiert) 2014 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
An der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom, beschäftigt sich eine Minerva-Forschungsgruppe mit den Nationalkirchen im Rom der frühen Neuzeit. Zentral ist die Frage, wie sich kollektive Identitäten und ihre künstlerischen Ausdrucksformen in der Ewigen Stadt ausgebildet haben. Ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern unterzieht die landsmannschaftlichen Institutionen der Tiberstadt und ihre Kunst erstmals einer übergreifenden Analyse, um am römischen Beispiel die Grundlagen des historisch gewachsenen Europas zu verdeutlichen.
Die Frage nach „nationaler Identität“ taucht in aktuellen Mediendebatten mit großer Regelmäßigkeit immer dort auf, wo es um das schwierige Zusammenwachsen der europäischen Staatengemeinschaft oder um die kritische Auseinandersetzung mit Globalisierungsprozessen geht. Vielfach wird befürchtet, die individuellen nationalen Identitäten würden durch die Erstellung eines europäischen Wertekanons oder die Bildung einer gemeinsamen europäischen Kultur ausgehöhlt. Auf der anderen Seite wird insbesondere in Zeiten wachsender Mobilität und Vernetzung die Kooperation verschiedener nationaler Kulturen als sozial und politisch notwendig und sogar als Chance für die Europäische Union verstanden. Diese in unserer heutigen Lebenswelt auftretenden Probleme erfordern eine immer neue wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihren historischen Grundlagen und Ausdrucksformen.
An der Bibliotheca Hertziana beschäftigt sich seit 2012 eine Minerva-Forschungsgruppe mit dem Thema „nationale Identität“. Das internationale und interdisziplinäre Team untersucht die zahlreichen Fremdengemeinschaften im Rom der frühen Neuzeit und die von ihnen errichteten Kirchen mit ihrer künstlerischen Ausstattung als Ausdrucksträger kollektiver Identitäten.
Die natio vor der Nation
Das Verständnis einer Nation als politisches Kollektiv und die damit einhergehende Verbindung von Nation und Staat sind moderne Phänomene. Nationalismus als politische Ideologie gibt es in Europa erst ab dem späten 18. Jahrhundert. Der Begriff der Nation als Gemeinschaft von Menschen, die kulturelle Merkmale wie Sprache, Sitten, Bräuche, Traditionen miteinander teilen, lässt sich hingegen bis in die Antike zurückverfolgen. Im Mittelalter wurde der Terminus im universitären, merkantilen und diplomatischen Bereich für landsmannschaftliche Personengruppen verwendet. Spätestens seit der Konfessionalisierung waren religionspolitische Aspekte wichtige identitätsbildende Kriterien nationaler Gemeinschaften. Gerade in jüngster Zeit hat die Forschung herausgestellt, dass sich schon im vormodernen Europa schrittweise ein Nationenbewusstsein im gegenseitigen – kooperativen und konfliktträchtigen – Kontakt der nationes ausbildete und manifestierte. Kennzeichnend ist dabei, dass die identitätsstiftenden Kriterien der Nation als „imagined community“ (Benedict Anderson [7]) in Symbole übersetzt und mittels künstlerischer Äußerungen visualisiert werden.
Rom – Schaubühne Europas
Die Schaubühne Europas war in der frühen Neuzeit Rom. Kaum eine andere Stadt wies eine vergleichbare Dichte an landsmannschaftlichen Institutionen auf, die koexistierten und interagierten. Als Papstresidenz, Wallfahrtsort und Zeugnis der Antike zog die Ewige Stadt Geistliche und Diplomaten, Händler und Bankiers, Handwerker und Künstler sowie Pilger an. Viele Reisende wurden hier über kürzere oder längere Zeit sesshaft. Nach der Rückkehr der Kurie aus dem Exil in Avignon wuchs die Einwohnerzahl Roms zwischen dem 15. und dem 16. Jahrhundert von etwa 25.000 auf fast 60.000 Personen an. Davon waren statistischen Erhebungen zufolge nur etwa 20 Prozent Römer. Montaigne bezeichnet Rom 1580 als „eine aus Fremden zusammengeflickte Stadt, wo jeder lebt wie bei sich zuhause“. Der Chronist Marcello Alberini spricht von „einer gemeinsamen Heimat von Menschen aus aller Welt“. In der Stadt am Tiber können darum die in einem kosmopolitischen urbanen Kontext entstehenden sozialen Dynamiken und ihre Auswirkungen auf die visuelle Kultur besonders gut analysiert werden.
Fokus Nationalkirchen
Kristallisationspunkte der nationes im Rom der frühen Neuzeit waren die sogenannten Nationalkirchen. Sie entstanden aus dem Bestreben der Fremden gleicher Herkunft, sich fernab von ihren Ursprungsorten gegenseitig Hilfe zu leisten und ihre gemeinsamen Interessen geltend zu machen. Keimzellen dieser oft im 14. und 15. Jahrhundert gegründeten Institutionen konnten kleine private Pilgerhospize mit dazugehörigen Oratorien oder Kirchen sein. Meist wurden sie mit der Zeit von landsmannschaftlich geprägten Bruderschaften geführt. Zunächst dienten diese Einrichtungen hauptsächlich karitativen Zwecken. Als sich im Laufe des 16. Jahrhunderts zusehends das europäische Staatensystem ausbildete, gewannen die römischen Nationalinstitutionen immer mehr den Charakter von territorialen Vertretungen. In dieser Funktion waren sie tief in internationale politische Vorgänge verwickelt und pflegten enge Kontakte sowohl zu den europäischen Fürstenhäusern als auch zur römischen Kurie. Damit hatten sie gesteigerten Repräsentationsansprüchen zu genügen. Um sich angemessen darzustellen, errichteten die nationes – oft in offener Konkurrenz zueinander – prächtige neue Kirchenbauten und erwarben Immobilien, über deren Vermietung sie sich unter anderem finanzierten. Auf diese Weise waren ganze Stadtviertel von bestimmten nationalen Gruppen dominiert, die sich auch in der Ausübung landesüblicher Gewerbe unterschieden.
Ihre Präsenz zeigte sich nicht nur an den Gebäuden, sondern auch an der Zurschaustellung typischer Bräuche. Lokal geprägte Feste und Prozessionen wurden publikumswirksam ausgerichtet. All diese Darstellungsformen werden im Rahmen des Minerva-Forschungsprojekts erstmals übergreifend auf ihre identitätsbezogene Aussagekraft hin befragt: Wie wurde durch Kunst ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten kulturellen Kollektiv geschaffen? Inwiefern zeichnete sich die Kunstpatronage der in Rom ansässigen Fremden durch die öffentliche Darstellung des „Eigenen“ in bewusster Absetzung zum „Anderen“ aus? Auf welche Weise durchdrangen und befruchteten sich in den Nationalkirchen fremde, importierte mit lokalen, römischen künstlerischen Phänomenen?
Mächtespiel an der Piazza Navona
An der Piazza Navona, die heute mit Berninis Vier-Ströme-Brunnen eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt ist, wird die rivalisierende Beanspruchung städtischen Raumes durch landsmannschaftliche Vereinigungen besonders anschaulich [Abb. 1]. Seit Langem schon unterhielten die drei einflussreichsten europäischen Mächte, die Königreiche von Spanien, Frankreich und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation eigene Pilgerhospize mit Bruderschaften und einem ansehnlichen Häuserbesitz in der angrenzenden Nachbarschaft. Als der Markt auf die neue Platzanlage über den Ruinen des antiken Stadions des Domitian um 1500 verlegt wurde, verwandelte sich die Piazza Navona zu einem neuen urbanen Zentrum und wichtigen Ort der Repräsentation. Um den Platz herum erbauten die drei Institutionen in enger zeitlicher Abfolge und in ausdrücklicher Konkurrenz zueinander repräsentative Kirchenneubauten [Abb. 2]: San Giacomo degli Spagnoli und San Luigi dei Francesi im Osten, Santa Maria dell’Anima im Westen [Abb. 3; Abb. 4]. Religiöse Festtage, Krönungs-, Hochzeits- und Trauerfeiern der Fürstenfamilie, aber auch militärische Siege gaben den nationalen Gemeinschaften Anlass, sich öffentlichkeitswirksam auf den Plätzen und Straßen des Viertels in Szene zu setzen. Am gesamten Häuserbesitz der natio wurden die Wappen der jeweiligen Herrscherhäuser angebracht, sodass die spanische, französische oder deutsche Zugehörigkeit für jeden sofort erkennbar war. Die auffällige Berufung der Gemeinschaften auf kollektive Gründungsmythen und Identifikationsfiguren ist vor dem Hintergrund der Entwicklung des Nationenbewusstseins in der Vormoderne zu verstehen.
Spielfiguren internationaler Politik
Die Untersuchung der institutionellen Entwicklungen und der Netzwerke der nationes liefert aufschlussreiche Ergebnisse. So werden im 16. Jahrhundert die Verwaltungsapparate immer komplexer und die internen Dynamiken vielschichtiger. Gleichzeitig nimmt der äußere Einfluss auf die Institutionen stark zu: Die römischen Nationalkirchen werden nun zum Schauplatz internationaler politischer Vorgänge. Anfangs hatten die europäischen Fürstenhäuser wenig Interesse an den von ihren Landsleuten in Rom gegründeten karitativen Gemeinschaften. Nun erkannten sie zunehmend ihren Nutzen als politische Instrumente und versuchten daher, auch die künstlerische Ausstattung ihrer Kirchen zu beeinflussen. Ähnliche Maßnahmen ergriff auch der päpstliche Hof. Im Zuge der Gegenreformation bemühte er sich, die Nationalkirchen der protestantischen Territorien unter seine Kontrolle zu bringen. Mit diesen Initiativen ging auch ein Wandel in der Kunstpatronage einher. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten zahlreiche einzelne, miteinander nicht koordinierte Kunstaufträge privater Stifter – vor allem Kapellenausstattungen – das Innere der Nationalkirchen geprägt. Zum Ende des Jahrhunderts wurden hingegen immer mehr übergreifende Dekorationsprogramme entworfen, die Chor, Fassade und das gesamte Kirchenschiff umfassten. Ziel dieser Aufträge war es, die Loyalität der gesamten natio zu ihren Fürsten und zur Kirche Roms hervorzuheben.
Die Kirchen der nationes im Rom der frühen Neuzeit erweisen sich als ein Experimentierfeld vormoderner kollektiver Identitäten und ihrer künstlerischen Inszenierung. Ihre Gesamtuntersuchung durch die Minerva-Forschungsgruppe an der Bibliotheca Hertziana trägt dazu bei, auch die Prozesse im heutigen Europa besser zu verstehen, in denen Identitäten zusammentreffen und sich gegenseitig befruchten.
Literaturhinweise
Desclée & C. Editori Pontifici, Rom (1928)
In: Art and Identity in Early Modern Rome, 27–43 (Hrsg. Burke, J.; Bury, M.)
Ashgate, Aldershot (2008)