Historische Raumkonstruktionen von Stadt und Land im vormodernen Italien
Forschungsbericht (importiert) 2015 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Historische Räume lassen sich nur anhand ihrer Darstellungen in verschiedenen Medien rekonstruieren. Ein Projekt an der Bibliotheca Hertziana widmet sich neben der exemplarischen Rekonstruktion vormoderner Räume Süditaliens und Neapels den historischen Raumkonstruktionen selbst. Eine Untersuchung des Zusammenspiels mehrerer raumkonstruierender Medien soll den historischen Prozess nachvollziehen, in dem Räume kollektiv wahrgenommen und definiert wurden. Ziel ist es, ein dynamisches Raummodell zu entwickeln, in dem kunsthistorische Objekte differenzierter verortet werden können.
Seit geraumer Zeit hat sich in den Kulturwissenschaften die Einsicht etabliert, dass Räume keine vorgefundenen dreidimensionalen Gegebenheiten sind, sondern vielmehr konstruiert werden. Sie werden nicht nur von ihren Bewohnern und Benutzern ganz unterschiedlich wahrgenommen, sondern auch in historischer Perspektive sehr unterschiedlich beschrieben und dargestellt. Bei diesen schriftlichen, bildlichen oder kartographischen Repräsentationen von Städten und Regionen setzt das Projekt an, um historische Raumkonstruktionen im Zusammenspiel der Medien zu erforschen. Im Zentrum stehen dabei Süditalien und Neapel. Die Auswahl erklärt sich zum einen dadurch, dass dieser Teil Italiens von der Forschung bislang vernachlässigt worden ist, zum anderen dadurch, dass am neapolitanischen Hof seit dem Spätmittelalter ausgesprochen viele entsprechende Text- und Bilddokumente produziert worden sind. Selbstverständlich lag diese Produktion im Interesse der verschiedenen in Neapel residierenden Königshöfe. Darüber hinaus erklärt sie sich jedoch auch aus der langen Kulturgeschichte dieser Region, die vor allem in den historiographischen Dokumenten überliefert wurde. Ein anschauliches Beispiel ist die Italia illustrata, ein Text des italienischen Humanisten Flavio Biondo (1392 bis 1463) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Anhand dieser Zusammenstellung tradierten Wissens über das Territorium, die zeitgenössische und moderne Erfassungen des Geländes enthält, lässt sich die wandelbare Verschränkung von Wissensbeständen und Raumdaten ermessen. Im Fokus der Untersuchung stehen die labilen und stets neu zu erforschenden Raumkonstruktionen, die sich erst in der Zusammenschau ergeben.
Das Material
Raumkonstruktionen, die sich auf eine Stadt oder Region beziehen, finden sich in Geschichtsbüchern und topographischen Beschreibungen, in Karten und Bildern. Jedes Medium bereitet die Informationen ganz unterschiedlich auf und verwendet diverse Narrative. Paolino Minorita etwa, ein Historiker des 14. Jahrhunderts aus Pozzuoli bei Neapel, hat einen Teil seiner Universalgeschichte in Tabellen angelegt, die es ihm ermöglichten, zeitgleiche Ereignisse in Text und Bild nebeneinander darzustellen und so aufeinander zu beziehen [1]. Er bezeichnete seine Tabellen als angemessene Bilder (grata pictura), die dazu dienen sollten, Geschichte gleichsam auf einen Blick zu verstehen. Außerdem verwendete er Karten, die nach eigener Aussage die Texte ergänzen und die Grenzen von Gebieten so bezeichnen sollten, dass sie vom Auge erkannt werden konnten. Paolinos Plan von Rom (Abb. 1) zeigt, wie Raum und Geschichte miteinander verwoben sind, denn die eingezeichneten Orte werden zum Teil mit dem Text des Buches „verlinkt“, zum größeren Teil verdanken sie ihre Existenz auf dem Plan der Nennung in anderen Texten wie etwa den Mirabilia, einer im Mittelalter zusammengestellten Denkmälerliste Roms [2]. Erst wenn man die handschriftlichen Bücher Paolinos als historiographisches Gesamtkonzept untersucht, offenbart sich das spätmittelalterliche Verständnis der Stadt als ein von Geschichte durchdrungener Raum, der im kartographischen Überblick unter Zuhilfenahme weiterer Informationen gelesen werden kann.
Die sogenannte Guidenliteratur, das sind Bücher, die eine Stadt mitsamt ihrer Geschichte anhand der Sehenswürdigkeiten beschreiben, ist ganz unterschiedlich gegliedert und gibt anhand dieser Gliederung ebenfalls Auskunft über die historische Raumkonstruktion. Die Guiden Neapels stehen inzwischen fast vollständig online zur Verfügung und lassen sich im Volltext gut bearbeiten (http://www.memofonte.it/ricerche/napoli.html). Die Unterkapitel, die meist einer groben chronologischen oder institutionellen Ordnung folgen, richten sich nach topographischen Maßgaben. Das ist daran erkennbar, dass die Autoren sowohl durch ganze Stadtviertel als auch durch einzelne Kirchen führen. Dabei widmen sie den einzelnen Kunstwerken und Bauten in der Regel nur kurze Beschreibungen, zitieren aber ausführlich Inschriften und streuen langatmige historische Hinweise ein. Bislang wurde diese Literaturgattung in der kunsthistorischen Forschung dazu genutzt, einzelne Werke zu datieren und zu lokalisieren; nun soll ihre Raumkonstruktion in den Blick genommen werden, in der die Werke verortet werden und somit eine räumliche und soziale Kontextualisierung erfahren.
Bei der Italia illustrata von Flavio Biondo, die im Auftrag von Alfons von Aragon 1453 entstanden ist, handelt es sich um einen frühhumanistischen Versuch, das historiographische Wissen zu Italien auf das Territorium des Landes zu beziehen [3, 4]. Der Autor unternimmt die schwierige Aufgabe, möglichst viele Ereignisse und Orte, die er bei den berühmtesten Autoren seit der Antike gefunden hat, in einer imaginären Reise durch Italien von Norden nach Süden in einer ebenso imaginären Karte einzuzeichnen. Das Resultat ist ein über weite Strecken schwer lesbarer Text, der die Angaben zur Geschichte mit adverbialen Orts- und Richtungsbestimmungen verbindet. Nimmt man diese wiederholten relativen Angaben in den Blick, wird die Schwierigkeit des Unterfangens spürbar, denn mit dem Autor muss man durch das Gelände reisen und – wie in einem Itinerar – einmal nach rechts oder links, einmal nach oben oder unten gehen, um die Orte seines spezifisch antiquarischen Interesses zu erreichen. Erneut zeigt sich die Verbindung von Geschichte und Territorium, aber auch das heuristische Problem, den durch die historischen Ereignisse geprägten Raum adäquat zu erfassen. Karten und Ansichten Neapels sind gemäß der allgemeinen Entwicklung im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit noch relativ selten. Die sogenannte Tavola Strozzi (Abb. 2) ist ein frühes Beispiel für die visuelle Verknüpfung von der Ansicht der Stadt mit einem historischen Ereignis [5].
Für das Forschungsprojekt ist von größerem Interesse, wie ein trotz Hanglage schwer überschaubares städtisches Ensemble in eine räumliche Ordnung gebracht wird, die trotz des Bemühens um eine exakte Aufnahme Rückschlüsse auf die soziale Ordnung und auf die Wertschätzung einzelner Bauten zulässt. Eingespannt in eine zurechtgestutzte, schöne Hügellinie bietet die Stadt am oberen Rand, einer Krone gleich, einige Bauten aus der Zeit des längst von den Aragonesen abgelösten Königshauses Anjou. Es stellt sich die Frage, wie eine anachronistische Wertschätzung dieser Bauten aus dem Verständnis der gesamten Stadt im 15. Jahrhundert zu erklären ist.
Vor- beziehungsweise frühmoderne Karten beleuchten in Kombination mit Texten das historische Raumverständnis besonders eindrücklich. Fonticulanos Plan von Neapel zum Beispiel (Abb. 3) [6], der entgegen dem ersten Eindruck eine kartographisch exakte Repräsentation der Stadt mit den wichtigsten Straßenzügen bietet, arbeitet außer den Burgen vor allem die sogenannten Seggi heraus – jene Versammlungsorte des neapolitanischen Adels, die das urbane Gefüge strukturierten.
Diese Karte entstand in einer Abhandlung zu gut regierbaren Städten – und in diesem Kontext verwundert es nicht, dass Neapel fast einem Organigramm gleicht, das den städtischen Raum des Souveräns konstruiert. Die etwa zeitgleiche, für den druckgraphischen Markt gedachte Kombination aus Karte und Vogelschau von Antonio Lafréry (Abb. 4) von 1566 hingegen scheint nichts auszulassen: Sie inszeniert die Lage der Stadt etwa so, wie sie in einer zeitgenössischen Beschreibung von Giovanni Tarcagnota dargestellt wird – nämlich wie in einem Blick von einem imaginären Landsitz weit oberhalb der Stadt [7, 8, 9]. Jenseits des souveränen Blickes manifestiert sich hierin das Interesse des noch jungen Marktes für topographische Druckgraphik.
Die Fragen
Die forschungsleitenden Fragen lauten: Welche Akteure sind für die Raumkonstruktionen verantwortlich? Wie lässt sich Raumwahrnehmung aus den Repräsentationen herausarbeiten? Wie lassen sich raumgenerierende Texte, Bilder und Karten im Zusammenhang interpretieren? In welchem Verhältnis stehen die zeitgenössischen sozialen Verhältnisse zu ihren räumlichen Repräsentationen? Wie lässt sich Geschichte in einem zwei- oder dreidimensionalen Medium abbilden? Wie wurden Texte, Karten und Bilder von unterschiedlichen sozialen Gruppen genutzt? Und nicht zuletzt: In welchem Verhältnis steht der historische Raum zu dem aktuellen Raum, in dem die Forscher sich bewegen?
Das Erkenntnisziel
Das Projekt will die Prozesse der individuellen und sozialen Raumkonstruktion wieder bewusst machen. Ausgangspunkt ist die aktuelle Raumkonstruktion, die weitgehend von interaktiven Medien wie etwa Google Maps oder Navigatoren geprägt ist und die den Eindruck erweckt, dass man sich in einem längst vermessenen Raum sicher bewegen könne. Im Fokus steht dabei insbesondere die Vernetzung von kartographischen Daten mit solchen der Geschichte und der sozialen Realität. Diese sind zwar auch heute allgegenwärtig, aber leider zu selten im Interesse der Interpreten. Ziel ist es, historische Raumkonstruktionen als Fallbeispiele kollektiver Weltversionen zu analysieren, aus denen im Rahmen topographischer Daten Erkenntnisse über die räumliche Organisationen kultureller Praktiken zu gewinnen sind.
Literaturhinweise
Convivium 2 (1), 38–59 (2015)
Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 108. Niemeyer, Tübingen (1996)
Global Academic Publishing Books, Binghamton, N.Y. (2005–2010)
Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 69. De Gruyter, Tübingen (1990)
Biblioteca artistica napoletana 8. Grimaldi, Napoli (2009)
Edizione Textus, L’Aquila (1996, zuerst 1582)
Napoli (1566)
Storia della città. Electa Napoli, Napoli (1991)