Natur als kulturelle Aushandlung: Landschaftsmalerei der Niederländer in Rom
Forschungsbericht (importiert) 2016 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Um 1600 erlebt die moderne Landschaftsmalerei in Europa ihre erste große Blüte als eigenständige künstlerische Form. Ein Forschungsprojekt der Bibliotheca Hertziana untersucht den Anteil niederländischer Künstler in Rom an dieser Entwicklung. Im Vergleich exemplarischer künstlerischer Werdegänge zeigt sich, dass die neue Sicht auf die Landschaft nicht allein aus einem intensiven Naturstudium hervorgeht, sondern auch Ergebnis eines vielschichtigen kulturellen Austauschs ist, der mit einer Migrationserfahrung beginnt.
Migration: Die Schule der Natur
Rom ist mit seinem einzigartigen kulturellen Erbe für Künstler und Gelehrte stets ein bedeutender Anlaufpunkt gewesen. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahm die Präsenz der Niederländer in der dortigen Kunstlandschaft spürbar zu [1]. Neben dem künstlerischen Interesse an den Meistern der Antike und der Renaissance folgte das, wie erst neuere Forschungen zeigen, aus einer Migrationsbewegung, die der Ausbruch des Krieges 1568 um die religiöse und weltliche Vorherrschaft in den „niederen Landen“ (lage landen) ausgelöst hatte [2]. Die Reisenden durchwanderten ihnen bislang unbekannte Natur- und Kulturlandschaften, von denen sie besonders die Alpen und die Stadt Rom zum Zeichnen animierten. Eine Vielzahl von Skizzen wurde, wie bisher kaum beachtet, von Laien gefertigt. Sie erweiterten das Formenrepertoire in der Naturdarstellung um einen Kanon stets wiederkehrender Bildmotive wie das Hochgebirge, Wasserfälle, antike Ruinen und felsige Meeresbuchten. Die Zeichnungen nahmen die direkte Wahrnehmung als Ausgang und wiesen eine besondere Naturnähe und innovative Gestaltungsmerkmale auf. Auf experimentelle Weise hält so etwa der niederländische Goldschmied Paulus van Vianen die Silhouette des Watzmanns bei Berchtesgaden in den bayerischen Alpen fest, den er auf einer Wanderung gesehen hatte, während er für den Erzbischof in Salzburg tätig war (Abb. 1).
Er nahm hier ein in der deutschen Landschaftsmalerei der Romantik sehr beliebtes Bildmotiv vorweg – Ähnliches vollzieht sich auch bei anderen Sujets wie den Wasserfällen von Tivoli (Abb. 2). Einzige Lehrmeisterin war die Natur (natura sola magistra), wie es der Gelehrte Joris Hoefnagel ausdrückte, der sich im Laufe seiner Wanderschaft nach einer kaufmännischen Tätigkeit der Kartografie und der Kunst zuwandte.
Die zwei Kulturen: Naturbetrachtung und Gelehrsamkeit
Die auf der Wanderschaft gefertigten Skizzen gingen meist erst über mehrere Bearbeitungsschritte in das Repertoire der Landschaftsmalerei ein. Das Forschungsprojekt vollzieht sie im Einzelnen nach. Zunächst trugen die Künstler zu ihrem Sujet verschiedene Bildquellen zusammen. Hierfür legten sie eigene Zeichnungssammlungen an oder sichteten und kopierten Werke aus dem Besitz führender Kunstförderer ihrer Zeit. Besonders ambitionierte Vorhaben mit wissenschaftlichem Anspruch schlossen eine erneute Besichtigung des Naturschauplatzes ein. In seiner Darstellung der Wasserfälle von Tivoli macht Hoefnagel diese Synthese von eigener Anschauung und künstlerischer Interpretation eigens zum Thema (Abb. 2): In einem Bild im Bild übernimmt er eine frühere Darstellung des niederländischen Künstlers Pieter Bruegel, der den Ort zwar als Tivoli benennt, ihn jedoch topografisch nicht exakt wiedergibt. Hinzugefügt wird eine neue, eigene Perspektive, die den Besuch und die Betrachtung durch den Künstler und seinen Begleiter dokumentiert und kommentiert. Die Darstellung fand Eingang in den umfassendsten Atlas seiner Zeit, die sechsbändigen Städte des Erdkreises (Civitates orbis terrarum).
Der Produktionsprozess von Landschaftsbildern verbindet hier „die zwei Kulturen“ der heutigen Geistes- und Naturwissenschaften [3] und nutzt die zunehmende Übertragung von Landschaftsansichten in Drucke, die vervielfältigt und über weite Distanzen verbreitet wurden. Der Wissensaustausch erfolgte wechselseitig: Naturgelehrte nördlich und südlich der Alpen reflektierten über Bildmotive der Landschaftsmalerei und bezogen in ihre Katalogisierung die Beschreibung der antiken Mythen, der Bibel und ihrer neueren Übersetzungen ein. Gleichzeitig brachte die Naturbeobachtung ihrerseits neue Sinnbilder hervor. So vergleicht der niederländische Naturgelehrte Anselm de Boodt die Wendigkeit und das erhabene Habitat der Gemse mit den Herrschertugenden des italienischen Adeligen und Diplomaten Francesco Gonzaga (Abb. 3).
Der Austausch zwischen verschiedenen Wissenskulturen ist eng mit dem interregionalen künstlerischen Austausch verflochten. Kultureller Austausch bedeutet hier den Austausch zwischen verschiedenen Regionen, die sich geografisch, politisch und ethnisch voneinander unterscheiden. In der Kunstgeschichte hat sich eine dichotome Denkweise durchgesetzt, die ihre Ursprünge in der Kunsttheorie seit der Renaissance und der Gründung des Fachs Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin im Zeitalter der Nationalstaaten hat. Sie stellt die beiden bedeutendsten künstlerischen Regionen der Frühen Neuzeit, Italien [4] und die Niederlande [5], einander typisierend gegenüber. Demnach brillierten die Italiener in der Figurendarstellung, die Niederländer in der Landschaftsmalerei. Die Italiener malten mehr aus der Erfindung und dem Konzept heraus, die Niederländer mehr nach dem Naturvorbild. Solche nationalen Eigenheiten wurden den Künstlern bereits zeitgenössisch zugeschrieben. Es wurden aber gleichzeitig auch schon Verschränkungen beider Vorgehensweisen erkannt. So hätten die Niederländer „den Kopf in der Hand“ gehabt und versucht, anstelle einer bloßen Nachahmung nicht nur die Natur, sondern auch ihre meist italienischen Vorbilder zu übertreffen [6].
Kanonisierung des Austauschs: Niederländische Landschaft in Rom
Bereits Zeitgenossen beschreiben die Auseinandersetzung niederländischer Migranten mit der neuen Umgebung auf Reisen als einen doppelten Wettstreit der Überbietung in ihrer Kunst: einerseits den Wettstreit mit dem Vorbild der Natur, andererseits jenen mit der italienischen Tradition. Neben bildnerischen Akzentuierungen, die etwa die Dramatik eines schwer zugänglichen Gebiets im Hochgebirge steigern konnte, wurden die vielfältigen Eindrücke einer Naturerfahrung in der Kunst synthetisiert und idealisiert. In die Stilisierung der Landschaftsbilder gingen in Rom sowohl die Vorstellungen ein, die sich Auftraggeber und Käufer von einer typisch niederländischen Landschaftsdarstellung machten, als auch die Auseinandersetzung der Maler mit der zeitgleichen Entwicklung der klassischen Landschaftsmalerei bei den ortsansässigen Künstlern. Der Austausch brachte eine neue Form der niederländischen Landschaftsdarstellung hervor, die für Rom typisch war und bislang kaum näher bestimmt worden ist [7]. Die Übertragung der einen Tradition in die andere stellt einen Prozess der kulturellen Übersetzung dar, der auch als transkulturell, also über die einzelnen Kulturen hinausgehend bezeichnet werden kann: Denn hieraus entstand etwas eigenes Drittes.
Niederländische Landschaftsmaler tauschten sich mit den in Rom ansässigen Künstlern nicht allein dadurch aus, dass sie sich von diesen ihre Landschaftsbilder mit figürlichen Szenen ergänzen ließen und Elemente aus deren idealisierten, pastoralen und heroischen Landschaftsansichten aufnahmen. So etwa ist es für den niederländischen Landschaftsmaler Paul Bril im Austausch mit dem Deutschrömer Adam Elsheimer und dem Italiener Annibale Carracci nachgewiesen. Kaum Berücksichtigung fand in der Forschung bislang die italienische, vor allem jedoch römische Besonderheit, Landschaften in größere Ausstattungsprogramme zu integrieren. Bril und seine Landesgenossen etablierten sich nicht allein und nicht vorrangig mit transportablen Gemälden, das heißt der Tafelmalerei, wie sie in den Niederlanden üblich war, sondern auch über die Mitarbeit in der Wandmalerei. Für die Ausschmückung von Palästen und Kirchen in Rom und seiner Umgebung wurden sehr viele Hände benötigt. Dabei bot sich die Möglichkeit, die Grenzen klassischer künstlerischer Genres zu überschreiten – eine Besonderheit der Schwellenzeit um 1600 [8]. Innerhalb der Arbeitsteams übernahmen niederländische Maler wie Carel van Mander, Bartholomäus Spranger, die Brüder Matthijs und Paul Bril, Jan Soens oder Annibale Durante zunächst untergeordnete Aufgaben im Bereich der Landschaftsmalerei, die sich im Dekorationssystem mit Ornamentalem und Figürlichen verband und zunehmend vom Bei- und Rahmenwerk ins Zentrum der Bildgestaltung wanderte.
Die Formen der Zusammenarbeit richteten sich nach dem jeweiligen Gesamtprogramm, wie das Beispiel der Galerie der geografischen Karten (Galleria delle Carte Geografiche) verdeutlichen kann – eines 120 Meter langen, tonnengewölbten Raums im Vatikan. Dieser Raum wurde im Auftrag von Papst Gregor XIII. von 1580 bis 1582 in Rekordzeit ausgemalt (Abb. 4). Hierfür entwickelte der Norditaliener Girolamo Muziano das Gesamtkonzept. Sein Schüler Cesare Nebbia entwarf in Zeichnungen die Anlage einzelner Bildfelder, die daraufhin von Gehilfen mit Leben gefüllt wurden. So verliehen die Brüder Matthijs und Paul Bril der Legende um die Papstwahl von St. Pietro da Morrone eine Idiomatik des Niederländischen, die sich in der Atmosphäre, der Darstellung des Gebirges mit Felsentor, dem Motiv der Wanderschaft und der Tierwelt des Bildfeldes niederschlägt. Die Landschaft ist hier das hauptsächliche Sujet, steht im Rahmen der Galerie der geografischen Karten jedoch weder thematisch noch formal für sich selbst.
Die bisherige Beschäftigung mit der Etablierung der „niederländischen“ Landschaftsmalerei in Rom um 1600 zeigt, dass scheinbar einfache Fragen wie die nach der Herkunft der Neuerungen in der Darstellung der Natur, nach der Einbindung der Niederländer in die römische Arbeitsweise und nach dem konzeptionellen Rahmen der Ausstattungsprogramme ein neues Licht auf die Entstehung des „autonomen“ Landschaftsbildes werfen und für den hier untersuchten historischen Zeitraum eine neue, eigene Definition dieses Bildtyps erfordern.
Literaturhinweise
Skira Editore, Mailand (1995)
Netherlands Yearbook for History of Art 63. Brill, Leiden (2014)
Cambridge University Press, New York (1959)
Arthaud, Paris (1989)
In: Netherlandish Art in its Global Context. Netherlands Yearbook for History of Art 66, 273–295 (Hg. Weststeijn, T.; Jorink, E.; Scholten, F.). Brill, Leiden (2016)
In: De steen van Alciato. Literatuur en visuele cultuur in de Nederlanden, 161–190 (Hg. Van Vaeck, M.; Brems, H.; Claassens, G. H. M.). Peeters, Löwen (2003)
Lithos Editrice, Rom (1996)
ZeL Edizioni, Treviso (2013)