Neapel im Film (1932–1963). Urbanistik, Raum, Zeit
Forschungsbericht (importiert) 2021 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Das Meer, die Gassen, das Theater und die Sonne sind bis heute wiederkehrende Elemente in der filmischen Inszenierung Neapels. Die Stadt am Golf ließ sich jedoch auch als Mittelpunkt kosmopolitischer Kultur, der kleinbürgerlichen Angestelltenschicht oder der Schifffahrtsindustrie in Szene setzen.
Wie jedes Kunstprodukt ist der Film Ergebnis gezielter Entscheidungen von Regisseuren und Produzenten: Die auf die Leinwand transponierte urbane Landschaft ist kein empirisches Abbild der Realität, sondern asymmetrische Dopplung derselben [1]. Die Einstellung der Kamera definiert die Umgebung neu: Sie begrenzt, wählt aus und rekonstruiert sie, indem sie präzise Merkmale des städtischen Raums manipuliert, um ein „Ökosystem“ im Dienst der Erzählung zu erschaffen [2, 3]. Die Beschäftigung mit städtischen Räumen im Film erfordert es, zu verstehen, wie die Identität einer Stadt durch die spezifische Darstellung konstruiert wird. Die Darstellungsweisen können politisch motiviert sein, bestimmten Denkmustern und künstlerischen Traditionen oder Ideen unterliegen. Der von Filmemachern reproduzierte Stadtraum besitzt seine eigene Historizität: Die Bilder von heute müssen den Bildern von gestern Rechnung tragen und stellen ihrerseits die Bilder von morgen her [4–5]. Das gilt besonders für eine Stadt wie Neapel, die von Anfang an eine innige Beziehung zum Kino gepflegt hat.
Für die Forschungsarbeit habe ich neben der grundlegenden Literatur, aus der das Standardwerk von Vittorio Paliotti und Enzo Grano Napoli nel cinema von 1969 hervorzuheben ist, ein umfangreiches Korpus von Filmen und Archivmaterial gesichtet: von den frühen 1930er-Jahren mit den Anfängen des Tonfilms zur Zeit des Faschismus über den Neorealismus bis zum cinema popolare und Francesco Rosis wegweisendem Film Le mani sulla città von 1963.
Am Beispiel einiger Szenen aus dem Film Carosello napoletano (E. Giannini, 1954) lassen sich erste Hinweise auf die filmische Konstruktion des neapolitanischen Stadtraums gewinnen. Gianninis Werk ist einzigartig und steht Vicente Minellis Filmmusicals an Reichtum der Mittel und Akribie in keiner Weise nach; es vereint auf sinnbildliche Weise die Merkmale des cineastischen Neapels. Der auf einem Theaterstück basierende und mit dem Prix International der Filmfestspiele von Cannes ausgezeichnete Musikfilm mit Paolo Stoppa und Sophia Loren ist richtungsweisend aus kurzen Videoclips avant la lettre konstruiert, die sich an populären neapolitanischen Liedern inspirieren. Die Schauplätze der Episoden reichen vom Sarazeneneinfall über den Ersten Weltkrieg bis in die 1950er-Jahre und zeigen das ganze Neapel, vom Bauch (Abb. 1) bis zur Promenade.
Räumlichkeit – Aufbrechung des privaten Raums und Theatralität
Ein sintflutartiger Regen zieht über Neapel hinweg, die Bewohner der Gassen flüchten in Deckung. Die Kamera fängt auf ihrer Fahrt nach oben einen Anstreicher ein, der auf dem Gerüst vor dem ersten Stock eines Hauses O' sole mio anstimmt (Abb. 2). Eine junge Frau schaut aus dem Fenster und lächelt ihm zu, aus einem anderen erhebt sich das Geschrei eines Mannes, der sich in seiner Ruhe gestört fühlt, doch der Arbeiter singt ungerührt weiter, bis die Sonne hervorkommt. In dieser Szene finden sich alle typischen Merkmale von Räumlichkeit des neapolitanischen Films: die Aufhebung der Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen Privatem und Öffentlichem, die Zentrifugalkraft der Handlung, die die Figuren ins Freie treibt, die Funktion von Übergangsräumen wie Treppen und Balkonen. Der Wegfall der Barriere zwischen öffentlichem und privatem Raum ist ein weiterer wichtiger Hinweis auf eine neapelspezifische Räumlichkeit im Film: die Theatralität.
Das „wahre“ Selbst des Individuums, so der Soziologe Erving Goffman, ist auf die private Sphäre beschränkt; in der Öffentlichkeit hingegen wird jede Handlung zum performativen Akt und über geteilte „rituelle Codes“ geregelt. Durch das Aufheben der Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem wird jede Handlung zur Aufführung und das Theatralische zur bevorzugten Metapher, um Neapel darzustellen. Die Stadt wird zur Bühne, und häufig setzt im neapolitanischen Film die Erzählung mit einer Theaterszene ein. Das Lied des Anstreichers in Carosello durchbricht die Geschlossenheit der Architektur, indem er die Menschen in ihren Wohnungen einbezieht und über die Schwellenzone der Balkone zur Interaktion mit ihm drängt.
Zeitlichkeit – Neapel außerhalb von Zeit und geschichtlichem Fortschritt
Mit einem Kameraschwenk über ein Barackenviertel inmitten von Trümmern beginnt Carosello napoletano. Zwei Ordnungshüter vertreiben eine unrechtmäßig dort in Elend und Armut hausende Familie. Vermutlich spielt die Szene in der unmittelbaren Nachkriegszeit, ein Coca-Cola-Plakat im Hintergrund liefert dafür den einzigen Anhaltspunkt. Als fliegende Händler laufen sie durch die Stadt und halten Notenblätter feil. Am Hafen erfasst ein Windstoß die Noten, eine Partitur fällt ins Wasser und eine Rückblende versetzt den Zuschauer in die Zeit des Sarazeneneinfalls von 1660 – die „moderne“ Gegenwart ist nur eines von vielen Ereignissen in der neapolitanischen Geschichte, in der sich die Erzählung zwanglos entfaltet. So wie die Räumlichkeit architektonische Barrieren einreißt, so fallen im cineastischen Neapel auch die zeitlichen Schranken. In den Filmen aus den 1930er- bis 1950er-Jahren scheint die Stadt in einem Schwebezustand gefangen, in dem die historischen Gegebenheiten sich ohne erkennbaren Fortschritt überlagern. Neapel ist das ideale setting für Geschichten, die den Menschen in seinen Nöten ins Zentrum stellen. Auch im Neorealismus verharrt das cineastische Neapel in zeitloser Erstarrung, ohne Aussicht auf politische Veränderung. Man denke an die in Neapel spielende Episode in Paisà (R. Rossellini, 1946), in der ein afroamerikanischer Soldat und ein neapolitanischer Gassenjunge sich in ihren jeweiligen Lebenswirklichkeiten an den Rändern der Gesellschaft spiegeln: der arme Junge, der in den Tuffsteinhöhlen der Stadt haust, und der Soldat, der aufgrund seiner Ethnie und Klassenzugehörigkeit ein outcast des amerikanischen Systems ist. In der Neapel-Sequenz von Paisà geht es nicht um den Zweiten Weltkrieg, sondern um menschliches Leid und Solidarität. Die Stadt wird zum idealen „narrativen Ökosystem“ für Geschichten über die conditio humana mit ihren Freuden und Nöten. Erst der Film Le mani sulla città, dem Processo alla città (L. Zampa, 1952) und La sfida (F. Rosi, 1958) vorausgingen, läutete den Paradigmenwechsel ein, indem er Neapel zeitlich präzise verortete.
Die Besonderheiten des Stadtraums machen Neapel zu einer einzigartigen location in der Geschichte des italienischen Kinos. Diese Besonderheiten sind von etlichen Regisseuren immer wieder neu verarbeitet und problematisiert worden und in aktuellen Filmen wie Martin Eden (P. Marcello, 2019) und Qui rido io (M. Martone, 2021) weiter präsent.