Neapel als Palimpsest
Neapel ist die größte Stadt und eine der bedeutendsten urbanen Realitäten des Mezzogiorno. Die Spuren ihrer langen Geschichte sind den diversen Schichten ihrer Besiedelung und dem städtischen Gefüge insgesamt eingeprägt. Allerdings ist die historische Schichtung nicht immer als Kontinuität zu lesen, im Sinn von stetiger Überlagerung: Offensichtlicher als bei anderen Städten ist Neapel als Palimpsest zu charakterisieren. Daher darf die oft partielle und zufällige Überformung der Stadt nicht nur diachron, also in ihrer historischen Schichtung verstanden werden, sondern muss auch synchron, auf ihre Nachbarschaften hin, betrachtet werden.
Als ehemalige Hauptstadt des Königreiches Sizilien und wirtschaftlicher und kultureller Angelpunkt des 1861 vereinigten italienischen Staates genießt Neapel innerhalb der Geschichts- und Kulturwissenschaften seit langem besondere Aufmerksamkeit, was auf die intellektuelle Elite der Stadt selbst und das andauernde Interesse auswärtiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurückzuführen ist und außerdem durch den kontinuierlichen Austausch auf europäischer Ebene gefördert wird. Dessen ungeachtet ist die (kunst-) historische Beschreibung des für Neapel seit dem Mittelalter bis in die Gegenwart typischen Phänomens der Rezeption "fremder" künstlerischer Kulturen nicht ganz frei von Schematisierung: So haben beispielsweise die nationalistischen Perspektiven des 20. Jahrhunderts das Bild eines "kolonialen" Neapels geprägt, das mal von der einen, mal von der anderen ausländischen Dynastie beherrscht wurde. Dadurch hätte sich in Neapel eine Bild- und Kunstsprache ausgebildet, die auf der lokalen Implementierung der Standards des jeweiligen Herkunftslandes basiert. Andererseits hat das Paradigma von Zentrum und Peripherie, das die Abhängigkeit Neapels von den kanonischen Kunstzentren bedingte, die lokale Spezifik und Eigenständigkeit der neapolitanischen Kunst auch länderübergreifend verschleiert.
Angesichts aktueller Fragen und neuer methodischer Herangehensweisen in den Geisteswissenschaften steht auch die Kunstgeschichtsschreibung Neapels, die an der Bibliotheca Hertziana eine lange Tradition besitzt, erneut zur Debatte. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, wurde am Institut ein Forum für Forschungen zum kulturellen Erbe Neapels geschaffen. Dieses soll eine vergleichende Perspektive ermöglichen, welche auch die Art und Weise, wie historische Erkenntnis gewonnen und produziert wird, kritisch reflektiert. Die aktuellen Neapel-Forschungen der Institutsmitglieder thematisieren vor allem Aspekte der Geschichte und Kultur Neapels, die von der neueren Kunstgeschichtsschreibung weniger beachtet worden sind, etwa das frühe und hohe Mittelalter, die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts und die Ausdrucksformen zeitgenössischer Kunst und Kultur. Das durch die Abteilung III eingerichtete Neapel-Forum bietet den teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, ihre individuellen Fragestellungen in einem übergreifenden und interdisziplinär angelegten Rahmen zu diskutieren und gemeinsame Initiativen zu entwickeln.
Zu den von den Mitgliedern des Neapel-Forums untersuchten Fragestellungen zählen insbesondere: Die Konstruktion, Wahrnehmung und Repräsentation des städtischen Raumes im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, die Strukturierung und Nutzung von Sakral- und Herrschaftsräumen; Architektur und ihr Verhältnis zu der sowohl physisch als auch mit Hilfe der Erinnerung konditionierten Stratigraphie der Stadt; die Art und Weise, wie in Neapel ein historisches Palimpsest durch selektive Wiederverwendung und Betonung spezifischer Aspekte der Vergangenheit geschaffen wurde; die Ortsgebundenheit und die spezifischen Merkmale neapolitanischer Kunstproduktion.